An den Symptomen herumdoktern

21. Mai 2007

Ich lese gerade (mal wieder, in einem anderen Zusammenhang) ein Buch von einer Endokrinologin, Dr. Diana Schwarzbein, die sich dank ihrer Profession intensiv mit dem Zusammenhang von Ernährung, Hormonen, Insulin und diversen Neurotransmittern befasst, hunderte von Patienten mit endokrinologischen und psychiatrischen Problemen aller Art behandelt hat, und bin dabei auf den folgenden Abschnitt gestoßen:

There is no medical diagnosis of a low-Prozac or a low-Zoloft state. The medical diagnosis is a low-serotonin state. Some people feel better when they take these drugs because their serotonin levels are balanced for the first time. This leads them to believe that something is genetically wrong with them. But that is not the case. For most people, a low-serotonin state is not genetic but directly related to eating and lifestyle habits, as weil as hormone deficiencies and aging. Taking antidepressants while ignoring the real cause for a low-serotonin state will not yield permanent results. In addition, the side effect of these drugs is that they can cause rapidly changing serotonin levels, which may make you feel worse.

But serotonin-reuptake inhibitors work only if serotonin is available to inhibit. lf you suffer from an acute low-serotonin state, even these drugs will not help you.

(Hervorhebungen durch mich)

Zwei Dinge finde ich hieran interessant.

Zum einen die sehr richtige Feststellung, dass sich die klassische medikamentöse Therapie darauf beschränkt, dem Patienten ein Medikament zu verabreichen um eine biochemische Dysbalance auszugleichen. So weit so gut, nur ist das ungefähr so – um ein Bild von Uffe Ravnskov zu benutzen – als entferne man einen Zeugen von einem Tatort und hoffe dadurch, einen Mord zu verhindern oder ungeschehen zu machen. Denn dass die Neurotransmitter – die sehr viel komplexer sind als „nur“ Serotonin – aus dem Gleichgewicht sind, muss ja eine Ursache haben. (Oder auch mehr als eine). Ohne einen genauen Einblick in die tatsächliche neurochemische Situation des Patienten zu haben, diesem ein möglicherweise sehr stark in seine Hirnchemie eingreifendes Medikament zu verordnen, ist meines Erachtens in Hinblick auf mehrere Aspekte gefährlich und fahrlässig.

(Ich will damit NICHT sagen dass es nicht Fälle geben mag, in denen ein Antidepressivum, das auf den Punkt wirkt, die Lebensqualität von Menschen rapide verbessern und im Wortsinn den Unterschied zwischen Leben und Sterben ausmachen kann. Aber dennoch wäre auch diesen Menschen geholfen, wenn man an die Ursache geht statt nur das beeinträchtigende Symptom zu dämpfen).

Dennoch ist genau das mein Hauptproblem mit der Gabe von Psychopharmaka, der Patient hat eine Pille, alles wird gut, niemand muss sich unbequeme Fragen über das wieso und warum stellen – einscließlich des Patienten. Und geht’s dir mal wieder mies, schmeiss eine Pille ein und mal dir die Welt rosa. Jegliches Verständnis dafür was tatsächlich im Körper des Menschen vorgeht (und man muss sich klar machen dass seelische Erkrankungen im allgemeinen eben nicht „nur im Kopf“ stattfinden sondern handfeste aber schwer einzugrenzende multikausale physiologische Ursachen haben) ist damit praktischerweise unnötig geworden.

Der zweite Punkt ist der Hinweis darauf, dass nicht nur die Medikation eine ohnehin schon angeschlagene Neurotransmitterproduktion zusätzlich aus der Bahn bringen kann, sondern vor allem auch das Medikament überhaupt erst dann wirken kann, wenn einem möglicherweise von seinen letzten Reserven entleerten Serotonin-Haushalt wieder selbiges ausreichend zur Verfügung steht. Faktoren wie Stress, reichlich Zucker / Kohlenhydrate in der Nahrung, Stimulanzien aller Art (das schließt auch ADHD-Medis mit ein), eiweißarme (Diät-) Ernährung führen ebenfalls zu einer (möglicherweise depressiven) Störung des Serotonin-Haushaltes:

Many brain chemicals („neurochemicals“) and hormones have been linked to the development of depression (e.g., norepinephrine, dopamine, thyroid hormones). However, research studies have implicated disturbances in the serotonin (5-HT) system and the Limbic Hypothalamic-Pituitary-Adrenal (LHPA) axis as two of the neurobiological alterations most consistently associated with mood-altering illness. Recent work, in fact, has strongly suggested that the interaction between these two biochemical systems may play a significant role.

Adrenal glucocorticoid (the „stress“ hormone), which helps regulate your metabolism and is produced by the adrenal gland, a tiny gland that sits on top of the kidneys, interacts with serotonin 5-HT receptors in the brain during conditions of chronic stress or severe allostatic load.“

Setzen wir dazu noch in Beziehung, dass ADDler quasi geistig unter Dauerstress stehen, ergibt sich hier mal wieder ein sehr klares Bild davon, warum ADD und Depression so gern Hand in Hand gehen.

Je mehr ich lese, je mehr ich meine eigenen Erfahrungen mit Stress, Depression und auch SSRI verstehe, umso weniger glaube ich, dass die Gabe von Monopräparaten eine Lösung sein kann – ich kenne einige Leute die nach einer depressiven Episode mehrere Jahre brauchten, um anschließend von ihrem Antidepressivum wieder herunterzukommen (aber sehr einträglich für Ärzte und Pharmazie ist es auf jeden Fall).

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