Archive for August, 2004

Du bist ja nur zu bequem

27. August 2004

oder: was macht die ADS-Diagnose bequem?

Es kann doch eigentlich nur eine bequeme Diagnose sein, wenn sie damit dem Diagnostizierten etwas (unerlaubterweise, das impliziert dieses leicht abfällige ‚bequem‘ – bist Du bequem bist Du zu schwach) erleichtert, und zwar so dass er einen Vorteil gegenüber der Umwelt hat.

Meine Freundin Mela hat sich in ihrem ADS- und Asperger-Blog gerade mit der Frage nach der bequemen Diagnose ADS befasst… Nachdem mir ja auch mein (Ex-) Neurologe mehr oder minder erklärt hat, ADS sei vor allem „eine bequeme Diagnose“ (was durchblitzen ließ dass man sich die wohl verdienen muss und nicht einfach so bekommen darf, nur weil man betroffen ist?), stelle ich mir die Frage, was ist das überhaupt, eine bequeme Diagnose?

Bequeme Diagnose, das heisst für mich übersetzt, wenn Du bequem bist, bist Du nur zu faul. Nun, den Satz habe ich oft genug gehört. Ich weiss dass er nicht wahr ist… meine Umwelt weiss es jedoch nicht. Wie kann ich auch jemandem klarmachen, dass ‚ruf doch eben schnell da an‘ für mich eine ungleich größere Anstrengung bedeutet als für ihn, doppelt, wo ich doch allgemein als klug, schlau, selbständig gelte und von so etwas Einfachem wie persönlichem Kontakt am Telefon nicht überfordert sein darf, weil nicht sein darf was nicht sein kann was man sich nicht erklären kann. Viel bequemer ist da die von außen herangetragene Behauptung: „Ich kann nicht heisst ich will nicht“. Genau das wird ADS-Patienten immer vorgeworfen.

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Trau schau wem

24. August 2004

oder: die hohe Kunst der Diagnose.

Wie diagnostiziert man ADS?

Stufe 1
Man nehme: eine Patientin, die mit sich und ihrem Leben am Ende ist und ihr letztes bisschen Kraft zusammereisst, um sich beim Arzt Hilfe zu holen, da sie täglich über aktives Beenden ihres Seins nachdenkt und zwei Meter neben sich steht. Die Hausärztin rät zum Psychiater. Patientin sucht sich einen empfohlenen Spezialisten für das, was sie ihr ganzes Leben plagt und wohl auch ihren schweren Depressionen und ihrer grundsätzlichen Lebensunfähigkeit zugrundeliegt: ADS.

Enter Spezialist. Spezialist quetscht ein paar verzweifelte Sätze zur Lebenssituation aus Patientin, erklärt ihr, dass er sie eigentlich nicht für ADD-Patientin hält, da, Zitat „ADSler ja im allgemeinen Stehaufmännchen sind uns so wirken Sie überhaupt nicht.“ Ergänzt ein paar allgemeine Floskeln darüber dass die Patientin doch bitte alles was sie über ADS weiss vergessen möge und das ja eine ziemlich, Zitat, „bequeme Diagnose“ sei. Nach 5 Minuten ist Patientin wieder im Wartezimmer.

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so, so you think you can tell

20. August 2004

… heaven from hell, blue skies from pain, can you tell a green field from a cold steel rail, a smile from a veil. do you think you can tell…

(Pink Floyd, Wish You Were Here)

Es ist das Verlorene an diesem Album, das mich schon immer in seinen Bann gezogen hat, die Weite der musikalischen Sphären, die garantiert im Drogenrausch entstand. Aber warum höre ich heute den Song mit dem oben zitierten Text? Ich fühle mich verloren und hilflos.

Mehr dazu gleich in einem etwas geordneteren Beitrag *der Musik hingeb*.

driven to distraction

11. August 2004

mag nichts essen. mag mich betrinken, verletzen. in einen bulimischen rückfall kippen. selbst das streichen von ein paar qm wand überfordert mich. die ungewisse situation im job / mit der kündigung macht mich wahnsinnig. kreise in meinen gedanken um ärger mit dem arbeitsamt, armut, unter der brücke schlafen müssen, alles verlieren wegen meiner einzigartigen blödheit. mich auf andere verlassen zu müssen die leider mehrfach ihre absichtliche und unabsichtliche unzuverlässigkeit bewiesen haben, weil ich zu dumm war mich abzusichern. lektion gelernt, aber um welchen preis.

ich irre mal wieder in meinem kopf umher und der empfänger im hirn ist auf multibroadcast mit wenigstens 15 kanälen. projekte ideen pläne ängste alles in einem wilden kuddelmuddel. chaos unordnung dissoziation. hilfreich bei hallowell zu lesen dass das völlig typisch für einen ADDler ist. am 19. habe ich das sogenannte auswertungsgespräch vom ads-test bei dem herrn ads-spezialisten… ich erwarte eigentlich dass er mir erzählt ich bin völlig normal und müsse mich nur ein bisschen mehr anstrengen und er gebe mir keine bequeme diagnose.

so oder so ähnlich hat er das ja schon beim nicht stattgefundenen 5-minuten-anamnese-gespräch formuliert… argh.

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Das Gegenteil von Gut ist Gut Gemeint

9. August 2004

Eine keineswegs vollständige Liste der schönsten Platitüden, die sich AD(H)Sler von der wohlmeinenden nicht betroffenen Umwelt anhören dürfen. Liebe Normale da draussen, keiner dieser Sätze ist hilfreich, bitte verschont uns…

  • Wenn Du Dich ein bisschen zusammenreisst geht das schon.
  • Es gibt da diese tollen Zeitplanungs-/ Organisationssysteme.
  • Lass dich nicht unterkriegen, das wird schon wieder.
  • Jeder ist mal schlecht drauf.
  • Du hast doch bislang alles irgendwie gut hinbekommen.
  • Morgen sieht alles ganz anders aus.
  • Du hast doch einen Job, einen Mann der Dich liebt…
  • Du musst doch nur *…
  • Mein Bruder hat immer stundenlang ueber den Lateinhausaufgaben gesessen. Kein Wunder dass du schlechte Noten hast, du tust ja fast nichts.
  • Alles was Du brauchst ist *…
  • Homöopathie hat mir da sehr geholfen.
  • Geh doch mal öfter spazieren.
  • ADS ist das nicht so eine Modediagnose?
  • Ritalin macht süchtig.
  • Du bist eben Melancholiker, da ist das ganz normal.
  • Streng Dich einfach etwas mehr an.
  • Du könntest wenn Du nur wolltest.
  • Sei doch mal etwas ordentlicher / disziplinierter.
  • Reine Faulheit.
  • Trödel doch nicht so.
  • Warum gehst Du Deine Liste nicht Schritt für Schritt an?
  • Hör auf zu träumen.
  • Hast Du es mal mit [einsetze Esoterikblafasel] versucht?

Und der All-time-Klassiker:

  • Denk doch mal etwas positiver

Vielen Dank auch…

TMS – Time Money Stuff

6. August 2004

Der Begriff TMS (analog zu PMS) stammt von Sari Solden in ihrem Buch ‚women with attention deficit disorder‘. Wie immer aktuell, heute geht’s mir um den Punkt STUFF.

Wir haben angefangen unser Wohnzimmer zu renovieren. War ne schlechte Idee. Da es eine work in progress ist… es gibt keinen Ort mehr an dem nicht Krempel steht.

Die Küche, eben noch entrümpelt und mit freien Flächen – voll. Der Fußboden, die Tische, die Regale im Wohnzimmer – ein Slalom und alles voll. Selbst das Schlafzimmer, Rückzugsort, Tempel der Stille und des Abschaltens… überall ZEUG. Ich werd noch irr dran. Und es wird noch mehr werden… bis die neuen Schränke da sind. Und vorher heisst es noch Arbeit Arbeit Arbeit und noch mehr Zeugs das rumsteht und nervt und ablenkt. Der blosse Anblick verursacht Knoten in meinem Inneren und ein intensives Gefühl von Übelkeit.

*schrei*

Dafür, dass ich Chaos automatisch verursache, stresst es mich ziemlich. Hi Tinnitus, long time no hear…

Ein seltener Moment der Klarheit

2. August 2004

Dem Zen ist es egal wie Du es erlangst… oder so.

Ich tappere so vor mich hin durch die Stadt, in der Straße haben die Kneipen Bierzeltgarnituren rausgestellt und die Bänke sind gut belegt. Aus Gewohnheit starre ich den Leuten aufs Essen… Neugierde… und mir kommt fast das Würgen.

Nicht, dass irgendwas daran besonders furchtbar wäre. Nein, es ist ganz normale durchschnittliche bis gute Deutsche Kneipenküche / türkischer Dönerladen / asiatischer Imbiß, Und trotzdem… was bringt die Menschen dazu diesen Fraß klaglos zu essen? Für das meiste davon würde ich keinen Cent bezahlen, einfach weil es minderwertiger und nicht allzu gut schmeckender Junk ist.

Für mich.

Mir wird klar, dass ich an mein Essen, an den Wein den ich trinke, (an die Freunde die ich mir suche, an die Bücher die ich lese… Liste beliebig fortsetzbar) zunehmend sehr hohe Maßstäbe anlege. Das Leben ist zu kurz um schlechten Wein zu trinken… aber die Sache hat zwei Seiten. Ich lege an alles in meinem Leben hohe Maßstäbe an, auch an mich selbst, und dem ist schwer zu genügen. Die Frage ist nichtmal, sind die Maßstäbe der anderen zu niedrig oder meine zu hoch oder ist das Essen da draussen Mist oder nicht… die Frage ist wie gehe ich mit meinen persönlichen hohen Maßstäben um, ohne in der Welt von Geiz ist Geil und Mittelmaß ist megageil zu überleben ohne irre zu werden? Und wie kann ich mir selbst genügen?

Antworten, anyone?