Du musst halt positiver denken

4. Juli 2009

Ein Satz der mich durch mein Leben verfolgt. Ich müsse halt/nur positiver denken, dann würde sich schon alles richten. Selbst von Leuten die ich mal als meine Freunde erachtete, bekam ich solch hilfreiche und wohl gemeinte Ratschläge zu Zeiten wo ich im tiefsten depressiven Loch steckte. Eine Zillion von Selbsthilferatgebern und auch Esoterik-Büchern suggeriert, dass letzten Endes alles ja nur eine Frage der richtigen Geisteshaltung sei, von der Bewältigung kleinerer psychischer Tiefs über die Lebens- und Karriereplanung bis hin zum Besiegen von Krebs und dem Wiederherstellen des globalen Weltfriedens.

Schon immer habe ich das mit einem gewissen Skeptizismus betrachtet – die Sorge Dich nicht Lebe-Haltung eines Dale Carnegie blieb für mich ebenso undurchführbar (weil abstossend) wie Methoden des Kreativen Visualisierens oder die TimeLine-Methode des NLP, bei der man quasi gezielt negative Erinnerungen wegblendet und neu umdefinieren soll, weil man mit den positiven Fake-Erinnerungen ja so viel glücklicher und besser und (natürlich) erfolgreicher leben könne.

Die Behauptung mancher esoterischer Lehren gar, wir schüfen uns unsere Leben selbst und suchten uns (karmische) Lektionen die es zu lernen gälte, sind gelinde gesagt menschenverachtend wenn man das dramatische Schicksal vieler Menschen auf diesem Planeten ins Auge fasst – aber zurück zur Selbsthilfe.

Bei der BBC kann man heute lesen:

Canadian researchers found those with low self-esteem actually felt worse after repeating positive statements about themselves.

They said phrases such as „I am a lovable person“ only helped people with high self-esteem.


Und weiter:

They found that, paradoxically, those with low self-esteem were in a better mood when they were allowed to have negative thoughts than when they were asked to focus exclusively on affirmative thoughts.

Writing in the journal, the researchers suggest that, like overly positive praise, unreasonably positive self-statements, such as „I accept myself completely,“ can provoke contradictory thoughts in individuals with low self-esteem.

Anders gesagt, Denke positiv ist keineswegs die Lösung (für alle) wenn es einem mies geht. Es könnte sogar mehr Schaden anrichten als Gutes tun. Und ich denke mir, schön dass die Wissenschaft diesen Umstand endlich auch mal bemerkt hat…

So wie ich noch nie geglaubt habe, dass es hilft eine beschissene Lage durch die rosa Brille zu betrachten – helfen tut bestenfalls eine kritische Analyse der tatsächlichen Gegebenheiten und Probleme, und die zielorientierte Suche nach Lösungsansätzen – so glaube ich zum Beispiel auch, dass es Menschen gibt für die Jogging eine gute Sportart ist, und dass es Menschen gibt bei denen das nicht so ist – die die vom Laufen profitieren sind die die auch physiologisch von vornherein dafür ausgestattet sind. Ich bin es nicht, und bei aller Willensanstrengung wird aus mir in diesem Leben keine gute und auch keine begeisterte Läuferin mehr werden – ich bin dafür einfach nicht geschaffen. So wie ich auch nicht für rosa Rüschenkleider und Mädchenzeugs geschaffen bin, ungeachtet meiner zwei X-Chromosome, oder für Frontalunterricht und Auswendiglernen.

Langer Rede kurzer Sinn, wie es scheint, ist auch das mit dem (sogenannten) positiven Denken eine der Kategorien die nur dann etwas bewirken, wenn man dafür geschaffen ist. In gewisser Weise ist es wieder mal kein Wunder: So wie die Apologeten von Veganismus oder irgendwelchen Ernährungsideologien im Allgemeinen einen Stoffwechsel haben, der diese Ernährungsform verträgt, so wie leidenschaftliche Jogger und Autoren von Büchern über das Laufen als Allheilmittel für Körper und Seele ganz augenscheinlich weder Knie- noch Rückenprobleme haben die sie daran hindern und von der Natur mit entsprechender Muskulatur und Reaktion ausgestattet wurden, so sind auch die Vertreter der Denke-Positiv-Heilslehren ganz offensichtlich die, die davon profitieren – was nicht bedeutet dass dies für den Rest der Welt genauso stimmt.

That’s what neurodiversity is about, möchte ich den Forschern zurufen – immerhin ist die Studie ein Schritt in die richtige Richtung, ein wichtiger Schritt der hilft zu verstehen, dass es eben keine One-size-fits-all-Lösungen gibt wenn es um den menschlichen Geist geht.

Zum Weiterlesen:

‚ Positives Denken‘ macht krank. Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen

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