Jäger und Sammler

19. Mai 2005

Thom Hartmann stellt in seinem Buch Eine andere Art, die Welt zu sehen. Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom die These auf, dass es zwei Typen von Menschen gebe. Auf der einen Seite die, die wir heute als neurologisch normal betrachten, die ein ruhiges, geregeltes, ordentliches Leben führen. Diese nennt er die Farmer, da sie einen seßhaften, gleichmässigen Lebensstil haben. Die andere Gruppierung nennt er die Jäger und Sammler, die durch die Welt streifen, die das Rascheln der Blätter im Wind vernehmen können und auf der Jagd sind, die aber für den geregelten Lebensstil der Farmer nicht taugen. Nach Hartmann sind Menschen mit AD(H)S die Jäger und Sammler.

Auf den ersten Blick scheue ich mich, solche Kategorien und Schubladen zu erdenken. Schubladisierungen ganzer Bevölkerungsgruppen finde ich, gelinde gesagt, daneben. Dennoch ist Hartmann nicht der einzige, der sich dem Thema Gene und AD(H)S widmet. So gibt es z.B. die Neanderthaler-Theorie, die davon ausgeht, dass bestimmte Bereiche des autistischen Spektrums, insbesondere Asperger und ADHS, genetisch möglicherweise an Neandertaler-Gene gekoppelt sind.

Auch diese These finde ich, obwohl interessant, zumindest schwierig. Die Geschichte der Paläoanthropologie müsste neu geschrieben werden. Immerhin soll doch wohl die gesamte Spezies homo sapiens auf eine Urmutter in Afrika zurückzuführen sein. Andererseits schließt das Geneinsprengsel anderer Hominiden nicht automatisch aus. Ob homo sapiens sapiens und der homo neanderthalensis zusammen fruchtbar waren, werden wir in absehbarer Zeit kaum klären können.

Ich denke, dass es für den Fortbestand einer intelligenten Art, die die Grenzen ihrer Instinkthandlungen überwunden hat und bewußt plant, wahrscheinlich essentiell war oder noch ist, dass es eine ausgewogene Mischung von Fähigkeiten innerhalb einer Gruppe gibt, damit auch genetisch eine hohe Variationsbandbreite vorhanden ist, die langfristig möglicherweise ungünstige ‚Features‘ erprobt und vielleicht irgendwann evolutionär dann auf eine andere Version zurückgreift. Noch bis etwa zur Industriellen Revolution war es relativ unproblematisch, mit den einen oder anderen Fähigkeiten seinen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Heutzutage sind die „Farmer“-Handlungsmuster der akzeptierte Weg zur Glückseligkeit. Arbeite hart, halte Dein Geld zusammen, bügele Deine Wäsche, mache Karriere. Interessanterweise sind aber unsere Celebrities, die Personen die in Film, Fernsehen und auch Business berühmt werden, die Paradiesvögel, die, die aus der Routine ausbrechen, die ihr eigenes Ding machen, die lieber mit einer Klampfe auf der Bühne stehen, statt auf der Rechenmaschine Belege zu addieren. Und nicht wenige dieser Menschen sind ganz offensichtlich oder auch bekennend ADS-ler.

Aber zurück zu den Jägern und Sammlern. Bereits Bruce Chatwin hat mich mit „Traumpfade“ darauf gebracht, dass ich wenn nicht ein Freak, dann doch ein altmodischer Typus bin. Er nennt es ‚das Nomadische im Menschen‘ und erklärt, dass z.B. Babys am ruhigsten sind, wenn sie sich auf den Armen eines gehenden Erwachsenen befinden. Dass das Gehen, das Wandern, die natürliche Lebens- und Fortbewegungsart von homo sapiens war, ehe der Mensch mit Ackerbau und Viehzucht seßhaft wurde. Dass der Mensch in seiner Genstruktur und seinem Sozialverhalten ein Nomade ist, der an Kleingruppen angepasst ist, was die paar tausend Jahre Ackerbau nicht wettmachen können.Dazu gehöre auch, dass Menschen sich am wohlsten in ihrer natürlichen Umgebung fühlten. Und die sei eben für den nackten Affenmenschen eine weite, grasbewachsene Steppe mit vereinzelten Bäumen – weswegen Menschen auch dazu neigen, egal wo sie leben, Wiesen und Rasen anzulegen.

Ich lebe in einer Stadt, in der die meisten Gebäude 4 Stockwerke nicht überschreiten. Das hat baustatische Gründe – aber für mich ist es sehr angenehm, das ist auch eine gewissermassen natürliche Grenze. Als ich das erste Mal herkam, fühlte ich mich sofort (und das erste Mal an einem Ort) wohl – was an der Mentalität der Menschen (direkt, offen, geradeheraus), an der Weite des Horizonts, aber auch an der Höhe der Häuser liegt. Beim Lesen von Chatwin wurde mir klar, dass das in etwa Baumhöhe entspricht. Mir sind Hauswände, Straßenschluchten mit hohen Gebäuden, körperlich unangenehm.

Ich mag den Wind auf der Haut und in meinen Haaren, ich bade gern nackt, am liebsten in freiem, offenem Wasser. Ich kann beim Gehen und in der Bewegung besser denken. Ich habe ADS. Meine Sinne sind sehr fein, ich kann auch leise Geräusche noch sehr gut wahrnehmen, Gerüche fein differenzieren. Die meisten künstlichen Aromen lösen bei mir ausgeprägten Ekel aus. Meine Wahrnehmung hat oft autistische Züge und Ausprägung, die Reaktionen auf selbst kleine Stimuli fallen für Anna Normalfrau u.U. extrem heftig aus. Nicht selten frage ich mich, wie ein Angehöriger eines Naturvolkes wohl auf den Ansturm von Sinenseindrücken, fremden Gerüchen, Farben, Geräuschen in der Großstadt reagieren würde.

Draussen fühle ich mich wohl, wenn Stille herrscht, nur die Blätter leise im Wind rauschen, mir ein Möwenkrähen zugeweht wird. Ich verabscheue enge Räume und Menschenansammlungen. Wenn alles, was ich höre, das Tappen meiner Füße auf weichem Gras oder Waldboden ist, dann kann ich fühlen, wie mein Geist zwei Gänge zurückschaltet, der Kopf freier wird.

Das alles sind keine Beweise für Hartmanns These, aber doch starke Indizien….

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